Die Welt aus Kindersicht betrachten bzw. es versuchen

 

 

Ein Baby ist in der Regel neun Monate im Bauch der Mutter. Dort ist es im Warmen, Engen, Sicheren geborgen. Alle Geräusche von außen sind gedämpft. Das Herz der Mutter schlägt rhythmisch und gleichmäßig. Manchmal ist die Mutter hoch erfreut oder tieftraurig oder ängstlich und diese Gefühle übertragen sich auf das Baby. Dann aber kehrt wieder Ruhe ein.

Das Baby wird geboren. Es fühlt Druck, möglicherweise Stress. Es atmet zum ersten Mal selbständig. Es öffnet die Augen. Es hört die Welt plötzlich nicht mehr gedämpft, sondern in Originallautstärke. Das Baby fühlt abrupt nichts Einengendes mehr um sich herum. Diese Freiheit könnte sich für es beunruhigend und beängstigend anfühlen. Wo ist der sichere, warme Schutz?

Das Baby kommt in einer Geborgenheit gebenden Familie an. Es wird gewärmt, gestillt, gefüttert, getröstet, eng am Körper getragen. Die Eltern sprechen mit ihm und singen mit ihm. Sie berühren es liebevoll. Sie führen es in einen Tages- und Nachtrhythmus hinein.

Ich nenne dieses Ankommen in der Familie „die erste Erweiterung“ nach der Geburt.

Das Baby fängt an, sich selbständig zu bewegen. Es lernt zu greifen, sich zu drehen, zu krabbeln und zu sitzen. Es beobachtet die Welt mit großen, neugierigen Augen. Es fühlt die Welt und seine nahen Mitmenschen. Es hört sie. Manchmal wird das Baby von etwas geplagt (Hunger, Müdigkeit, Verdauungsprobleme, ein Schreck) und es weint.

Es muss viele Eindrücke verarbeiten und findet immer wieder Halt, Schutz und Sicherheit bei Mama und Papa, vielleicht auch bei Geschwistern.

Nun kommt die zweite Erweiterung: das Baby lernt Oma und Opa und vielleicht seine Patin, seinen Paten kennen.

Es ist jetzt zwischen 6 und 12 Monaten. Es ist auf der Erde angekommen. Es kennt seine lieben Bezugspersonen. Es kann sich krabbelnd schon ein bisschen fortbewegen.

Aber es ist ein noch recht hilfloses Vögelchen, das getragen, gefüttert, gewickelt werden muss und das zwischen all den neuen Eindrücken, die es sammelt, immer wieder seinen sicheren Hafen, seine lieben Menschen braucht, um sich auszuruhen und um die vielen Erlebnisse  zu verarbeiten.

Die dritte Erweiterung steht an: nun ist die Elternzeit zu Ende und die Mutter oder der Vater möchte/muss wieder in den Beruf zurück und es werden nun gehäuft Trennungen vom Baby passieren. Es ist traurig, denn es versteht die Trennungen nicht. Mit der Zeit lernt es aber, dass Mama oder Papa immer wieder zu ihm zurückkommt und für es da ist.

Wer aber kümmert sich verbindlich während Mamas, Papas Abwesenheit um es? Wer wird ein weiterer sicherer, freundlicher Hafen für es? Wer spricht und singt mit ihm? Wer berührt es liebevoll? Wer füttert es? Wer hebt es auf, wenn es hingefallen ist? Wer zeigt ihm ein weiteres Stück der Welt? Wer hilft ihm, einen Wechsel zwischen Aktivität und Ausruhen/Verarbeiten zu finden? Wer schützt es vor zu vielen Eindrücken, die unsere laute, hektische Welt heute im Überfluss bietet, damit es in Ruhe und in seinem Tempo in die Welt und in sich selbst hineinwachsen kann?

                        Wir sehen: für ein Baby, das aus einem ganz engen Ort kommt, öffnet sich die Welt allmählich. Mama, Papa, Geschwister, Oma, Opa, Paten. Danach kommt, weil die Berufstätigkeit ihren Tribut fordert, die nächste Erweiterung, die behutsam vor sich gehen sollte. Meiner Meinung nach sollte diese Erweiterung möglichst in einer sehr kleinen Gruppe geschehen: eine weitere, liebe, zuverlässige Bezugsperson und wenige andere kleine Kinder und maximal 6 Stunden der Fremdbetreuung täglich. Diese Erweiterung ist für das kleine Baby ein riesengroßer Schritt, eine Erweiterung um 100%. Viele neue Menschen. Alles riecht anders. Andere Stimmen. Kleine Zusammenstöße. Eine andere Art getragen oder angefasst zu werden. Es ist lauter, weil da mehr Menschen/Kinder als in der Kernfamilie sind. Und es muss die Trennung von Mama/Papa verkraftet werden.

Das Baby kommt in der neuen, erweiterten Welt an und gewöhnt sich an diese. Es fühlt sich (hoffentlich) wohl. Es lernt, einer neuen erwachsenen Frau zu vertrauen.  Es lernt ganz viel. Es fällt hin und lernt aufzustehen. Es lernt zu laufen. Es lernt selbst zu essen. Es fängt an, mit Sprache und Lauten zu experimentieren. Es fängt an, seinem Willen mit Zeichen und Worten Ausdruck geben zu können. Es lernt, mit anderen zusammen zu sein. Es lernt, kleine Konflikte (z.B. ums Spielzeug) auszuhalten. Es erfährt, dass es manchmal laut ist in einer kleinen Gruppe. Es erfährt Trost, Anregung, Schutz,  zurecht –gewiesen-Werden. Es erfährt, dass es nicht immer die Nummer 1 ist, sondern auch mal warten muss.

Es ist jetzt über ein Jahr alt, immer noch ein Kleinkind.

Und schon steht die vierte Erweiterung vor der Tür. In meiner bisherigen Statistik stelle ich fest, dass etliche Tageskinder schon mit mit 1,5 oder  1 ¾ Jahren einen Krippenplatz bekommen und meine kleine Gruppe  verlassen. Ein neuer Abschied, eine neue Erweiterung steht an. Eine neue Umgebung. Alles riecht anders. Es ist noch viel lauter. Es sind viel mehr Kinder mit viel mehr Aktivität und viel mehr Lautstärke und Konfliktsituationen da. Es ist nicht nur eine erwachsene Bezugsperson da, sondern mehrere.

Das Kind ist noch recht klein.

Meinem Eindruck nach braucht es noch immer eine kleine, überschaubare, täglich zuverlässige Welt. Täglich die gleichen Rituale. Täglich den Wechsel aus Aktivität und Ruhe. Täglich die gleiche Bezugsperson und eine überschaubare Zahl von anderen Kleinen.

Wie verkraftet das Kind die KITA mit ihren (im Vergleich zur Tagesmutter) verstärkten Reizen, erhöhten Bezugspersonenwechseln?

Wann wäre eigentlich die Zeit, die dritte Erweiterung in die nächste (KITA oder Kindergarten) übergehen zu lassen?

Wir können es nur am Kind ablesen, was es braucht und wo es in seiner Entwicklung steht, denn es kann uns das so genau noch nicht selbst sagen. Wie wäre es, wenn wir als Wegweiser nehmen würden, dass das Kind  schon eine Weile „ich“ sagt und sich jetzt mit Kraft, Neugierde und Selbstbewusstsein in die Welt stellt und damit in eine neue Phase seiner Persönlichkeitsentwicklung tritt? Wäre das vielleicht ein Zeichen dafür, dass es in sich angekommen ist,

dass es schon ein Stück stabiler in seiner kleinen Persönlichkeit ist,

dass eine neue Erweiterung, eine größer werdende Welt für es verkraftbar ist?

 

„Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln. Wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“

 

Wir dürfen die Wurzeln nicht vergessen. Wer zu früh fliegen will oder muss, dem drohen eventuell Turbulenzen, Instabilität  oder Flugangst.

Petra Werum